Eine weitere Kurzgeschichte von Fritz Paul Vater / Die Lobby Ratte /
27.04.2011
Kunst & Kultur
Fritz Paul Vater beschreibt in seiner neuesten Kurzgeschichte die Verunsicherung, die das überraschende Erscheinen einer alten, schmutzigen Ratte in der Lobby eines Viersternehotels in Kuala Lumpur bei den Anwesenden auslöst. Das kurze Ereignis wirft zahlreiche Fragen auf. Wie gut verstehen wir unsere Umwelt? Sind wir in der Lage, mitzuempfinden? Können wir Entscheidungen treffen? Trauen wir uns zu handeln? Und dann auch: Wie können wir durch unser ethisch moralisches Vorbild und durch geeignetes Handeln unser Umfeld beeinflussen? Nachstehend die kurze Geschichte in ihrem orginalen Wortlaut:
Ich sah sie hereinkommen, durch die gläserne Drehtür. Sie wirkte nicht ängstlich, eher ungläubig, verstört und zunächst auch ratlos. Da saß sie nun, inmitten der gläsernen, hölzernen und steinernen Pracht eines frisch renovierten Viersternehotels. In der Lobby, vor der gläsernen Drehtür, auf schwarzem, frischpoliertem Marmorboden. Geradeaus vor sich die vier im Firmen-Design höflich lächelnden Damen der Rezeption. In der Halle wartete eine Gruppe von Abreisenden mit ihren Koffern auf die Vorfahrt des Busses, der sie zum Airport bringen sollte. Sie sahen sie zuerst. Eine alte, graue, schmutzige Ratte, die sich eben durch die gläserne Drehtür in die Lobby verirrt hatte. Sie schauten gebannt und taten nichts. - Eine Dame der Rezeption musste telefoniert haben, denn nach einiger Zeit erschien Rawi, ein junger netter Inder. Er versah normalerweise den Service auf einer der oberen Etagen, in der auch ich gelegentlich wohnte. Ich schätzte Rawi, denn wenn ich unerwartet durch die offenstehende Tür in mein Zimmer kam, fand ich ihn oft tief versunken in die Lektüre eines meiner Bücher. Ich hatte dieses Verhalten von Anfang an unterstützt, denn es war mir klar, dass er zu solchen ausländischen Werken normalerweise keinen Zugang hatte. Auch liebten wir es, uns über den Inhalt der Bücher auszutauschen. Was nun die Ratte in der Lobby betraf, war Rawi nicht unvorbereitet. Er hatte einen leeren Plastikeimer und einen alten Besen mitgebracht. Aber offenbar hatte er noch keinen Plan, um die Situation zu bereinigen. Dies änderte sich auch nicht dadurch, dass er auf die Ratte zuging, den Eimer vor ihr abstellte und den Besen bedrohlich hob. Ich war unbesorgt, denn ich wusste - Rawi ist ein überzeugter Buddhist. Er würde der Ratte nichts antun. Als er dann aber so tat, als wollte er die Ratte mit dem Besen in den Eimer kehren, setzte sie sich zur linken Seite der Lobby in Bewegung in der Hoffnung, in der glänzenden, steinernen Marmorwand ein Loch zum Entweichen zu finden. - Ach, was war das für ein trauriger Anblick. Das Tier war entweder blind oder von der Pracht geblendet, es war vor Angst gelähmt oder bereits vom Alter gezeichnet, es war hier oder generell bereits orientierungslos, es sah krank aus und das Fell war unglaublich schmutzig. So ging Rawis Jagd auf die Ratte einmal an der Außenwand um die ganze Lobby herum - natürlich auch im Rücken der Design Damen der Rezeption. Sie ertrugen die Nähe der Ratte in erstaunlich pflichtgemäßer Haltung. - Es erschien mir wie eine Ewigkeit, aber schließlich war die gläserne Drehtür wieder erreicht, die ich vorsorglich in die optimale Position gebracht hatte. Mit gefühlvoller langsamer Drehung gelang die Flucht auf den Bürgersteig. Dann - es war kein Sprung, es war eher ein Absturz vom Bordstein auf das Straßenpflaster. Und auch hier fand sich kein Schlupfloch zum Entweichen. Endlich nach etwa dreißig mühsamen Metern einer anstrengenden Flucht des schmutzigen Felles auf seinen unsicheren Beinen gelang das befreiende Abtauchen in die stinkende Dunkelheit der tropischen Großstadtkanalisation. Der Reisebus war bereits abgefahren. Die Damen der Rezeption checkten wieder Neuankömmlinge ein. Das Management ging seinen wichtigeren Aufgaben nach. Rawi und ich waren traurig und glücklich zugleich.
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