Das Digitale verdrängt das Soziale - Achtsamkeit statt digitaler Ablenkung
30.09.2016
Medien & Kommunikation
Sind die Grenzen einmal gefallen, ist der Weg für eine digitale Annexion der Digitalunternehmen geebnet. Die Annexion als friedliche Übernahme mit leisen Waffen findet im Digitalzeitalter neue Anwendung. Die Ablenkung ist das neue Massengeschäft. Je öfter internetverbundene Geräte eingeschaltet und je länger sie anschließend aktiv sind, desto mehr Werbung und Daten verkaufen Digital- und Medienunternehmen ihren Kunden. Smartphones und viele Apps werden dafür entwickelt, das digitale Geschäft massentauglich zu machen und so in neue Umsatzdimensionen zu treiben.
Und so entwickelt sich Nutzerverhalten unbewusst zu einer Gewohnheitsroutine. Gewohnheitsroutinen sind bekanntermaßen schwer zu durchbrechen. Anstatt an sich selber und an seinen Kindern eingetretene Symptome kurieren zu müssen, kann Digitalverhalten achtsam reflektiert und nachhaltig verändert werden. Der Begriff der Achtsamkeit passt so gar nicht in die von Politik und IT-Unternehmen ausgerufene "digitale Revolution", die besonders durch disruptives Wachstum und Maßlosigkeit auffallen. Achtsamkeit und Disruption sind konträre Konzepte einer digitalen Gesellschaft. Das müssen sie aber nicht, wenn die Logik der Digital-Akteure bekannt ist. Es gibt Chancen auf einer kulturellen, normativen Ebene.
Darüber hinaus gibt es Veränderungsmöglichkeiten auf persönlicher Ebene. Die Logik der Digital-Apologeten: Nur eine digitale Gesellschaft erbringt hinreichend Nachfrage nach digitalen Gütern. Also muss beides kongruent wachsen für den Erfolg der digitalen Revolution. Leider bleiben die Perspektiven auf den Nutzer unberücksichtigt, mit allen Konsequenzen.
Digitale Bewusstheit
Doch Hilfe ist im Anflug. Leider allerdings nicht als Patentlösung für digital überforderte Eltern oder Lehrer. Vielmehr ist es eine persönliche Haltung, die sich löst vom ungebremsten Konsum von Gütern und eben auch von digitalen Medien. Ich nenne es "Digitale Bewusstheit". Eine digitale Bewusstheit bedeutet: ein besonderer Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand und achtsames Handeln im eigenen Lebensumfeld. Er kann und sollte für jedermann zu einer charakterlichen Eigenschaft werden und dazu beitragen, ungebremsten Konsum in einem frühen Konsumstadium - insbesondere bei Kindern und Jugendlichen - einzudämmen.
Eine Idee könnte sein, "Achtsamkeit" als Unterrichtsfach in Schulen einzuführen. Anstatt in der Grundschule wacklige Videos mit dem Tablet zu produzieren und auf das Feuer des digital Schnellen, Machbaren und Unterhaltsamen auch noch Benzin zu gießen, kann "Achtsamkeit" eine Alternative, eine Haltung, ein erstrebsames Persönlichkeitsmerkmal werden. Diesen Zustand zu erreichen, ist meines Erachtens eines der wertvollsten Ziele persönlicher Entwicklung. Denn er erfordert den bewussten Verzicht, nicht den schnellen Konsum. Er erfordert den bewussten Umgang statt der einfachen Verführung. Und er führt zu mehr Unabhängigkeit und Autonomie statt Abhängigkeit, Sucht und Fremdsteuerung. Aufmerksamkeit, Empathie und Konzentration werden dann wieder eine Chance bekommen.
Wem der Prozess der Achtsamkeit zu aufwändig erscheint, dem bleibt dann noch das Motto: Abschalten statt Anschalten, oder salopp "Digital Detox", eine digitale "Entgiftung". Darunter wird der Verzicht auf die Nutzung von Smartphones und Computern für einen fest definierten Zeitraum verstanden. Die digitale Auszeit reduziert Stress und holt den Nutzer aus dem "Always-On" und der virtuellen Welt für kurze Zeit zurück ins reale Leben. Langfristig wirksam ist das nicht, aber immer mal wieder gut.
In viel stärkerem Maße als bisher ist es erforderlich, dass sich die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion um die Mediennutzung nicht nur auf die jüngeren Zielgruppe fokussiert, sondern sich vor allem mit dem Verhalten Erwachsener befasst. Denn der beste Digital-Unterricht mit Kindern und Jugendliche kann scheitern, wenn die Eltern zuhause ihrer eigenen Smartphone-Sucht frönen.
Es ist also nicht nur Aufklärung über die Risiken und Nebenwirkungen vor allem in den höheren Klassen notwendig, sondern Information für die Erwachsenen - und Aufklärung der Erwachsenen. Für Hundebesitzer gibt es inzwischen einen "Hunde-Führerschein". Für Erwachsene (vor allem jene mit Kindern) leider noch kein adäquates Dokument. Sollte in dieser Wisch- und Ablenkungsgesellschaft keine digitale Vernunft einkehren, so werden unsere Kinder oberflächlich und egoistisch ihrer sofortigen Lustbefriedigung frönen - auf eigene Kosten und die anderer.
http://www.gerald-lembke.de
Professor Dr. Gerald Lembke
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