Pressemitteilung von Helmut Schäfers

Innovationen, Nutzenbewertung, Rationierung - wie geht es weiter mit der Arzneimittelversorgung?


Medien & Kommunikation

- Patientenperspektive stärker berücksichtigen
- Patientenpräferenzen sind neben klinischen Daten wichtiger Baustein rationaler Entscheidungen
- Schwächen der Arzneimittelbewertung stärker in den Blick nehmen
- Schnellen Zugang zu medizinischen Innovationen sicherstellen

Leverkusen/Berlin, 12. Juni 2017 - Für Wissenschaftler aus Medizin und Ökonomie stehen Fragen zum Wert von Arzneimitteln und die Anerkennung von Innovationen im System der gesetzlichen Krankenversicherung im Mittelpunkt der Diskussion um die Zukunft der Arzneimittelversorgung. Zentral ist, dass Innovationen nach der Zulassung schnell und sicher den Patienten zur Verfügung stehen.

Trotz einer im deutschen Gesundheitssystem einzigartigen Regulierungsdichte steht die Arzneimittelversorgung immer wieder im Blickpunkt von Akteuren der Gesundheitspolitik. Jeder neue Eingriff bedeutet aber immer einen schwierigen Balanceakt, der nicht immer gelingt. 2011 wurde in Deutschland die frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Rahmen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) eingeführt. Auf der Basis dieser Entscheidung verhandeln Hersteller und Gesetzliche Krankenversicherung einen Erstattungsbetrag. Anlässlich eines Bayer Vital-Pressegesprächs* in Berlin haben Experten die Nutzenbewertung von neuen Arzneimitteln u.a. am Beispiel der Onkologie in den Blick genommen. Dabei werden Schwächen des Beurteilungsprozesses deutlich, die auf Grund der Komplexität des Verfahrens und der Methoden nicht immer sichtbar werden.

Forderung nach stärkerer Patientenbeteiligung
Vor dem Hintergrund von versorgungsrelevanten Entscheidungen zu Arzneimitteln, der erwünschten Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung sowie der sozialrechtlich geforderten Eigenverantwortung der Versicherten ist es erforderlich, die Patienten an medizinischen oder regulatorischen Entscheidungen stärker zu beteiligen. Darauf wies Prof. Dr. Axel Mühlbacher, Professur für Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement, Hochschule Neubrandenburg, hin. Er betonte: "Regulatorische Entscheidungen zur Therapie werden heute überwiegend aus der Sicht von Experten beurteilt. Die Perspektive der Patienten bleibt bei der Bewertung der Entscheidungskriterien weitestgehend unberücksichtigt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die berücksichtigten Entscheidungskriterien aus Patientensicht nicht zwangsläufig deckungsgleich sein müssen mit der Perspektive der Experten".

In Deutschland ist die Erhebung und Berücksichtigung des Patientennutzens im Sozialgesetz verankert (§ 35b SGB V). Bei der frühen Nutzenbewertung über den Zusatznutzen von Arzneimitteln müssen auch patientenrelevante Endpunkte berücksichtigt werden. Das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) hat erkannt, dass zur Verbesserung der Bewertungsmethodik verschiedene Kriterien zur Entscheidung unterschiedlich gewichtet werden müssen und hat bisher drei Pilotstudien zu diesem Thema durchgeführt. "Von einer regelhaften und systematischen Berücksichtigung von wissenschaftlichen Studien zu den Patientenpräferenzen ist man in Deutschland heute jedoch noch weit entfernt", unterstreicht Mühlbacher sein Fazit und fordert gleichzeitig stärkere Berücksichtigung der Patienteninteressen und -orientierung in der Gesundheitsversorgung.

Rascher und sicherer Zugang zu medizinischen Innovationen
In der Diskussion über Bewertungsverfahren für neue Arzneimittel spiegeln sich die unterschiedlichen Vorstellungen und Sichtweisen von Arzneimittelentwicklern, gemeinsamer Selbstverwaltung und Klinikern wider. Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, Berlin, sieht deshalb wesentliche Probleme bei der Nutzenbewertung: bei der Bestimmung der geeigneten Vergleichstherapie (ZVT) und den für die zur Bewertung herangezogenen unterschiedlichen klinischen Endpunkten wie krankheitsfreies Überleben, progressionsfreies Überleben, Lebensqualität und Gesamtüberleben. Deshalb fordert er auch, "wenn es bei einem Medikament aus der Zulassung Hinweise darauf gibt, dass es das progressionsfreie Überleben verbessert, dann ist das ein Grund, seinen Einsatz in Erwägung zu ziehen."

Bei der in Deutschland praktizierten frühen Bewertung des Zusatznutzens steht die Kostenperspektive im Vordergrund. Ein Zusatznutzen wird erst dann anerkannt, wenn ein neues Medikament im Vergleich zum bisherigen Standard das Gesamtüberleben deutlich verbessert. Diese Diskrepanz macht deutlich, dass die Perspektiven in der konkreten Versorgungssituation oft nur sehr schwer mit Kostenüberlegungen vereinbar sind. "Für das Auseinanderdriften der gesetzlich geforderten Zulassung und der Erfüllung von Ansprüchen für die Kostenerstattung eines Medikamentes muss eine Lösung gefunden werden", so Bruns. "Der rasche und sichere Zugang zu medizinischen Innovationen für alle betroffenen Krebspatienten ist essentiell für den Behandlungserfolg."

Die Deutsche Krebsgesellschaft setzt sich dafür ein, sogenannte translationale Tumorboards zu etablieren, um den Zugang zu Innovationen zu ermöglichen und gleichzeitig mit allen Beteiligten verpflichtend Behandlungsergebnisse auszuwerten. "So kann Wissen generiert werden, das Patienten, Ärzten und den für die Preisverhandlungen verantwortlichen Organisationen zugutekommt", schlussfolgert Dr. Johannes Bruns.

Nutzenbewertungsergebnisse sind Momentaufnahme
"Bei allem nachvollziehbaren Streben, die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung verstärkt in den Therapiealltag von Ärzten zu integrieren, darf nicht vergessen werden, dass die frühe Nutzenbewertung primär ein politisches Instrument zur Preisregulierung im Arzneimittelmarkt darstellt.", mahnt Marco Annas, Leiter Gesundheitspolitik, Bayer Vital GmbH. "Die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung dürfen nicht unreflektiert als ärztliche Therapieempfehlung interpretiert werden, da sie eine formalisierte Momentaufnahme der vorhandenen Evidenz darstellen."

So darf das Bewertungsergebnis des IQWiG keineswegs als endgültige und unumstößliche Bewertung missverstanden werden. Die oft zitierten "internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin" geben keinesfalls vor, den Zusatznutzen so zu bewerten, wie es derzeit in Deutschland der Fall ist. "Ein großes Problem bei der Arzneimittelbewertung ist, dass das IQWiG stets nach der bestmöglichen Evidenz verlangt, dabei aber aus formalen Gründen, die tatsächlich verfügbare Evidenz ignoriert, aus der sich auch Informationen für die Quantifizierung eines Zusatznutzens ableiten lassen", betonte Marco Annas. Häufig handelt es sich dabei um die Zulassungsstudien des Arzneimittels. Dieses wenig pragmatische Vorgehen unter dem Diktum der bestmöglichen Evidenz geht an der Realität zum Zeitpunkt der frühen Nutzenbewertung vorbei und führt häufig zu ungerechtfertigt schlechten Bewertungsergebnissen.

Umso wichtiger ist es für außenstehende Beobachter zu verstehen, dass ein nicht nachgewiesener Zusatznutzen keinesfalls gleichzusetzen ist mit dem Nachweis für keinen Nutzen. Letztlich kann die Frage nach einem Zusatznutzen nicht von Statistikern eines Instituts anhand von wenigen statistischen Kennzahlen final beantwortet werden. Hierfür sind immer Wertentscheidungen notwendig, die einen gesellschaftlichen Diskurs erfordern. Dabei müssen in Zukunft neben Patientenpräferenzen vor allem auch die Expertenmeinungen ärztlicher Fachgesellschaften einbezogen werden.

* Pressegespräch am 12. Juni 2017: Arzneimittel-"TÜV" auf dem Prüfstand - Innovationen, Nutzenbewertung, Rationierung

http://www.gesundheit.bayer.de
Bayer Vital GmbH, Abteilung Communications
Kaiser-Wilhelm-Alle 70 51368 Leverkusen

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