Adipositas: (k)eine Frage der Schuld!
04.03.2024
Medizin, Gesundheit & Wellness
Der Welt-Adipositastag am 4. März wird regelmäßig zum Anlass genommen, auf die Krankheit aufmerksam zu machen, von der bereits fast jeder vierte Deutsche betroffen ist. Anders als bei den meisten Erkrankungen ist das Wissen, dass es sich bei Adipositas um eine Krankheit handelt, aber noch nicht weit verbreitet. Im Gegensatz dazu herrscht der Irrglaube vor, dass es sich um einen Zustand handle, der von den Betroffenen selbst verschuldeten Zustand sei.
Eine aktuelle Umfrage1 unter 1200 Ärzten und anderen Gesundheitsfachkräften in 8 Ländern, darunter auch Deutschland, hat ergeben, dass weniger als 27% der Befragten Adipositas korrekterweise als chronische Erkrankung klassifizierten, die von einer Vielzahl von Faktoren, wie Genetik und Umgebung verursacht wird. Die Mehrzahl ging dagegen davon aus, dass es sich um einen Zustand handle, der umkehrbar ist. Ein Viertel der Befragten benannte sogar das individuelle Verhalten und schlechte Angewohnheiten als Ursache der Adipositas.
Die Ergebnisse aus Deutschland ergaben sogar nur 22% korrekter Kategorisierungen, das zweitschlechteste Ergebnis im Länderranking, nur noch gefolgt von Australien. Im Vergleich schnitten Spanien mit 36% und Brasilien mit 30% am besten ab.
Dass diese Sicht nicht den aktuellen wissenschaftlichen Stand widerspiegelt, macht Prof. Dr. Matthias Blüher, einer der führenden Wissenschaftler im Bereich der Adipositasforschung und Mitglied des Vorstands der Deutschen Adipositas Gesellschaft, im Rahmen seines Vortrags "Ist Adipositas eine Krankheit?" deutlich.
So sei Krankheit im medizinischen Sinne als ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit definiert, der auf Funktionsstörungen von einem oder mehreren Organen beruht. Diese Kriterien, so Blüher, sei für die meisten Betroffenen von Adipositas erfüllt. "Es gibt keine harmlose Adipositas", so Blüher weiter. Das habe zum Beispiel eine Registerstudie mit 3.5 Millionen Versicherten aus Großbritannien belegt, die unter anderem zeigte, dass das Risiko für koronare Herzerkrankungen schon bei Übergewicht und erst recht bei Adipositas deutlich erhöht ist.
Dass Adipositas nicht mit schlechten individuellen Entscheidungen begründbar ist, erläutert Dr. Sonja Chiappetta: "Adipositas ist keine Frage der Disziplin, sondern eine hormonelle Regulationsstörung". Der Versuch, mit Diäten oder Fasten eine Gewichtsreduktion zu erreichen, sei mit Apnoe-Tauchen zu vergleichen. Wo der Drang zu atmen den Taucher an die Oberfläche zurücktreibt, führt im Vergleich der Hungertrieb zu Nahrungsaufnahme. "Der Hunger hilft uns zu überleben und den können wir aktiv nicht steuern", so Chiappetta. Letztlich passt sich der Körper an, der Grundumsatz sinkt. "Jede Diät führt letztendlich, auf lange Sicht gesehen, zu einer Gewichtszunahme".
Ihr Fazit: "Das Stigma Adipositas ist katastrophal, Adipositas ist keine Schuld, Adipositas ist keine Entscheidung. Kein Mensch möchte adipös sein. [...] Es ist eine Erkrankung, die als Erkrankung akzeptiert werden muss."
Die WHO hat Adipositas bereits im Jahr 2000 als Krankheit klassifiziert.2 Der Bundestag folgte 2020 und beschloss, den G-BA mit der Entwicklung eines DMP Adipositas zu beauftragen, welches in Kürze in Kraft treten wird und dann noch in der Versorgungsrealität ankommen muss.3,4
"Leider ist aber die Erkenntnis, dass es sich bei Adipositas um eine Krankheit handelt, noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen. Unglücklicherweise schließt das einige Mediziner mit ein.", so Melanie Bahlke, erste Vorsitzende des AcSD e.V. "Es besteht Hoffnung, dass sich mit Einführung des DMP Adipositas zumindest an diesem Umstand etwas ändert."
"Der Irrglaube, die Adipositas selbst verschuldet zu haben, führt bei Patienten regelmäßig zu dem Schluss, sich auch selbst helfen zu müssen, anstatt sich professionelle Hilfe zu holen.", so Bahlke weiter. "Die Fehlvorstellungen zu Adipositas - bei Patienten und Ärzten - führen dazu, dass die Adipositas nicht leitliniengerecht behandelt wird. Auch werden andere Erkrankungen übersehen, da sie der Adipositas zugeschrieben oder von dieser verdeckt werden. Am Ende kostet das Stigma Adipositas Leben!"
Mit einer Online-Veranstaltung zum Welt-Adipositastag am 4. März führt der AcSD e.V. die Diskussion um Adipositas als Erkrankung und die Frage der Schuld weiter und trägt sie in die Öffentlichkeit. Über 200 registrierte Teilnehmer, von Adipositas Betroffene und Aktive der Selbsthilfe, diskutieren mit den geladenen Experten. Die Teilnahme ist kostenlos unter http://www.adipositas-tag.de möglich.
Der AcSD e.V. setzt sich seit 20 Jahren dafür ein, dass von Adipositas Betroffene eine angemessene Behandlung erhalten. Hierzu bringt er sich aktiv in die Entwicklung medizinischer Leitlinien ein, unterstützt Adipositas-Selbsthilfegruppen in ihrer Arbeit und informiert die Öffentlichkeit über die Erkrankung im Rahmen von Vortragsveranstaltungen und Medien, wie dem AdipositasSpiegel.
Quellen:
1 The Need for a Strategic, System-wide Approach to Obesity Care, OPEN, March 2024
2 WHO. Obesity: preventing and managing the global epidemic. WHO Technical Report Series 894, Genf 2000
3 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw27-de-diabetes-strategie-701742
4 https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1149/
Abkürzungen:
AcSD - Adipositaschirurgie Selbsthilfe Deutschland
G-BA - Gemeinsamer Bundesausschuss
OPEN - Obesity Policy Engagement Network
WHO - World Health Organisation
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