Der Verhaltenskapitalismus - Eine neue Spielart des Kapitalismus gewinnt Macht und Einfluss
11.09.2019
Politik, Recht & Gesellschaft
- Menschliches Verhalten ist ein nutzbarer Rohstoff
- Dieser Rohstoff entwickelte sich durch den technologischen Fortschritt zu einem Produktionsfaktor
- Besagter Produktionsfaktor hat zu neuen Geschäftsmodellen geführt, die inzwischen einen massiven Einfluss auf das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben nehmen.
- Es ist daher von einer neuen Spielart des Kapitalismus zu sprechen: dem Verhaltenskapitalismus
- Diese neue Form des Kapitalismus wird noch nicht als eine solche begriffen, was die Gefahr mit sich bringt, dass sie Macht- und Marktverhältnisse schafft, die später kaum oder nur sehr schwer korrigiert werden können
Die Welt erlebt einen Zeitenwandel und eine Ära der Veränderung. Dynamisch, schnell und an welcher Stelle ist dies deutlicher zu erkennen, als am technologischen Fortschritt, der kraftvoll und mit einem unglaublichen Tempo das persönliche sowie das gemeinschaftliche Leben verändert und beinahe kein Feld, sei es Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft, unberührt lässt.
Im Rahmen dieses Prozesses haben sich Einflussverhältnisse verschoben sowie neue begründet. Das alles aber beinahe unmerklich, fast schleichend im Schatten stehend und doch am Ende so gut wie alles tangierend. Technologie bedeutet mehr denn je Macht und dieser spezielle Einfluss durch die smarte Welt, findet sich heute in der westlichen Welt bei einigen wenigen Unternehmen erstaunlich gebündelt, die naturgemäß wenig Interesse daran haben, die Risiken ihrer Tätigkeit allzu öffentlich darzulegen, da sie primär die ihres Tuns Chancen sehen und nicht die Gefahren.
Dieser neue Einfluss der großen Technologiekonzerne, die oft erst wenige Jahre existieren, verblüfft und erstaunt ebenso, wie die Entwicklung, dass deren Produkte mit rasender Geschwindigkeit ein unverzichtbarer Teil des Alltags vieler Menschen, sowie der Gesellschaft werden konnten. Eine lautlose Eroberung und doch handelt es sich um weitaus mehr als nur um geschickte Geschäftsmodelle, die sich problemlos in das Bestehende einfügen lassen. Diese Unternehmen sind nur Spieler auf einem Spielfeld, das ihre Existenz und ihr Wachstum erst ermöglicht hat. Eines, das bislang noch zu oft unterschätzt und nicht erkannt wird: der Verhaltenskapitalismus.
Mit diesem Begriff, das Kind selbst wurde vom Autor dieser Zeilen abgeleitet und getauft, bekommt das Gefühl für die Verschiebung von Machtverhältnissen einen ordnenden, fundierten Rahmen und wird begreiflich:
Unter Verhaltenskapitalismus versteht man eine Spielart des Kapitalismus, in der menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird.
Der Schlüssel zum Verständnis dieser neuen Form des Kapitalismus ist die Betrachtung von menschlichem Verhalten als nutzbaren Rohstoff. Aus diesem lassen sich, soweit er in ausreichendem Maße gewonnen werden kann, einerseits die Bedürfnisse der Menschen, andererseits aber auch Prognosen zum künftigen Agieren ableiten. Auf Basis dieses Rohstoffes, können daher Produkte und Dienstleistungen erzeugt werden, die den Bedürfnissen bzw. dem künftigen Verhalten entsprechen. Zudem ist es möglich, bereits die Daten an sich auf dem Markt zu handeln. Wie Verhalten definiert wird?
Unter Verhalten versteht man sowohl Handeln, dulden, als auch Nichthandeln. Die Vorgänge können bewusst oder unbewusst sein. Es wird durch Reize beeinflusst und erzeugt.
Bei genauerer Betrachtung wurde das Verhalten in schon immer als Rohstoff genutzt, wie sonst hätten Marketing und Vertrieb sonst funktionieren können? Nun aber haben sich die Bedingungen geändert, denn die technologische Entwicklung hat zu neuen Geschäftsmodellen geführt, die einen solchen Einfluss gewonnen haben, dass sie die Frage aufwerfen, ob aus ihnen nicht längst eine eigenständige Form des Kapitalismus entstanden ist, der Verhaltenskapitalismus.
Erst durch die neuen Möglichkeiten der Verhaltensabschöpfung konnte der Rohstoff zu einem Produktionsfaktor werden und damit eine eigene Spielart des Kapitalismus begründen.
Der zentrale Produktionsfaktor des Verhaltenskapitalismus ist menschliches Verhalten. f
Nicht, dass man nicht schon immer möglichst viel wissen wollte, aber erst mit besagter technologischer Entwicklung löste sich das Problem der schwierigen Gewinnung von Verhaltensdaten innerhalb kürzester Zeit in Luft auf. Es wundert daher kaum, mit welcher Geschwindigkeit große Technologiekonzerne entstanden und begannen Daten zu sammeln, Verhalten nach kapitalistischen Methoden zu nutzen und den Menschen Stück für Stück einzubetten. Algorithmen und Automation machten das möglich, wozu Menschen gar nicht fähig gewesen wären. Sie entstanden und nun analysieren sie den Homo stimulus und versuchen auf Basis seines Verhaltens Informationen bzw. Daten zu generieren oder Produkte und Dienstleistungen anzubieten bzw. zu vermitteln. Ganz auf das Individuum zugeschnitten. Der Rohstoff "Verhalten" wurde zum Produktionsfaktor. Dieser neue Produktionsfaktor ist inzwischen so wichtig, dass er auch für den klassischen und den Finanzkapitalismus unverzichtbar geworden ist. Das Verhalten ist heute auch ein zentraler Produktionsfaktor für den klassischen und den Finanzkapitalismus und ergänzt Arbeit, Boden und Kapital.
Dieses Verhalten wird anschließend direkt als Handelsware genutzt oder aber in einem Produktionsprozess zu Befriedigungs- und/oder Prognoseprodukten weiterverarbeitet.
Ein Befriedigungsprodukt zielt darauf ab, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.
Ein Prognoseprodukt sagt künftiges menschliches Verhalten voraus. Verhaltensdaten können aber auch ohne Weiterverarbeitung gehandelt werden.
Diese Aufgabe übernehmen normalerweise Algorithmen und mehr und mehr auch die künstliche Intelligenz. Die Lagerung von Verhalten, sowie die Verarbeitung zu Befriedigungs- und Prognoseprodukten finden in der Verhaltensfabrik statt.
Der Kreislauf des Verhaltenskapitalismus
Abschöpfung
Der Verhaltenskapitalismus basiert auf den Rohstoff und Produktionsfaktor Verhalten, der durch Reaktion des Individuums auf Reize entsteht. Diesen muss er erst durch Abschöpfung gewinnen. Der Abschöpfungsprozess kennt drei Varianten:
• Offene Abschöpfung
• Dialogische Abschöpfung
• Versteckte Abschöpfung
Umwandlung in der Verhaltensfabrik
Die gewonnenen Datenmengen werden nun in der Verhaltensfabrik, eine Metapher, um einen komplizierten und dezentralen Verarbeitungsprozess plastischer darzustellen, gelagert und in Teilen zu Produkten verarbeitet. Dabei werden Prognoseprodukte, als auch Befriedigungsprodukte hergestellt.
Handeln auf dem Markt
Sowohl Prognose- und Befriedigungsprodukte als auch das Verhalten selbst können durch den Datensammler selbst genutzt oder veräußert werden. Hier entstehen massive Gewinne, die in der Regel wiederum reinvestiert werden. Nicht unbedingt nur in das bisherige Geschäftsmodell, sondern auch auf in andere Felder, die zur Vernetzung einladen. Für den Markt ergeben sich daher folgende Möglichkeiten:
- Offerieren passender Angebote
- Neue Angebote
- Optimierung der eigenen Angebote
- Veräußerung auf dem Markt
- Einbettungsoptimierung
Reizung des Individuums zur Reaktion
Im Idealfall reagiert das Individuum auf die angebotenen Reize und schafft so neues Verhalten, das wiederum abgeschöpft werden kann. Es entsteht ein Kreislauf der Einbettung, der am Ende in der Schaffung einer individuellen Wirklichkeit münden kann.
In einem vollständigen kollektiven Individualismus, der natürlich eine stetige technische Weiterentwicklung voraussetzt, würde der Abgeschöpfte nun Stück für Stück in einer individualisierten Realität versinken. Durch vorhandene Milieukämpfe ist dieser aber noch unvollständig. Parallel dazu akkumulieren sich der Rohstoff Verhalten und das Investitionskapital, dass die Möglichkeiten der Verhaltensfabrik und des Abschöpfens immer weiter verbessert. Es entsteht ein Kreislauf. Das Spiel, getrieben durch die Maschine, beginnt stetig von vorne. Damit bedingt er einerseits die Einbettung des Menschen, aber zugleich auch das weitere auseinanderdriften der gesellschaftlichen Milieus.
Bestandsaufnahme und Ausblick
Der Verhaltenskapitalismus ist eine Spielart des Kapitalismus, die analog dem Finanzkapitalismus, in seiner Wirkung nur schwierig identifiziert werden kann und daher in der öffentlichen Wahrnehmung und auf der politischen Agenda nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dieses nutzt er geschickt, um sich weiterzuverbreiten und zu festigen, was sich im Kapitalismus häufig durch das Entstehen von Monopolen oder Oligopolen kennzeichnet. Die reale Lage der Technologiekonzerne und ihre Marktmacht belegt dies eindrucksvoll.
Der Verhaltenskapitalismus hat sich daher inzwischen fest etabliert, ohne jedoch als solcher wahrgenommen zu werden. Modernste Technik ermöglicht dabei eine nie gekannte Einbettung, die bis in die intimsten Bereiche des Individuums vordringen kann.
Die Darstellung dieser Entwicklung erfolgte bewusst neutral, da sie sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringt. Die Einbettung des Individuums in einer eigenen Welt, die der eigenen Bedürfniserfüllung und Selbstverwirklichung dient, ist erst einmal nicht negativ, zumal dieses keinesfalls abgeschottet gestaltet sein muss. Auf der anderen Seite spielt es natürlich eine zentrale Welt, wer die Reize sowie die Daten letztendlich kontrolliert und ob das Verhalten oder sogar die eigene Realität manipuliert werden.
Dieser gekürzte Beitrag von Andreas Herteux wurde zuerst - in ungekürzter Form - auf der Präsenz der Erich von Werner Gesellschaft, online im Wochenmagazin DerFreitag und in den Wissenschaftsnetzwerken unter der DOI 10.13140/RG.2.2.18058.62402 (deutsch) und 10.13140/RG.2.2.32319.25768 (englisch) veröffentlicht.
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