Erschütterung des Beweiswerts einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten ärztlichen Bescheinigung?
02.05.2025
Politik, Recht & Gesellschaft

2. Die Bescheinigung muss jedoch erkennen lassen, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat.
3. Der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann erschüttert werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, welche in ihrer Gesamtschau Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des / der Beschäftigten begründen.
(Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15. Januar 2025 - 5 AZR 284/24; Orientierungssätze des Verfassers)
Bei der Arbeitgeberin handelt es sich um eine Vertriebsgesellschaft für Komponenten in der Elektroindustrie. Der Arbeitnehmer war bei ihr als Lagermitarbeiter beschäftigt.
In den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er der Arbeitgeberin jeweils im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub vier Mal Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die im Nicht-EU-Ausland ausgestellt wurden.
In der Zeit vom 22.08.2022 bis zum 09.09.2022 gewährte die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer Urlaub, den dieser in Tunesien verbrachte. Am 07.09.2022 meldete er sich unter Beifügung eines in französischer Sprache verfassten ärztlichen Attests arbeitsunfähig krank. Nach Übersetzung jenes Attests bescheinigte der behandelnde Arzt in Tunesien dem Arbeitnehmer, dass dieser an "schweren Ischialbeschwerden im engen Lendenwirbelkanal" leide, er 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.09.2022 benötige und sich während dieser Zeit nicht bewegen und reisen dürfe. Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Arbeitnehmer ein Fährticket für den 29.09.2022 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW nach Deutschland zurück. Dort legte er der Arbeitgeberin am 04.10.2022 eine Erstbescheinigung eines an seinem Wohnort niedergelassenen Orthopäden vor, welcher eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 08.10.2022 bescheinigte. Darüber hinaus legte er, nachdem die Arbeitgeberin mitgeteilt hatte, dass es sich ihrer Auffassung nach bei dem Attest vom 07.09.2022 nicht um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handele, eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17.10.2022 vor, in welcher dieser dem Arbeitnehmer bescheinigte, dieser habe am 07.09.2022 eine beidseitige "Lumbioschialgie" aufgewiesen, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage erforderlich gemacht habe. Die Arbeitgeberin verweigerte trotzdem die Entgeltfortzahlung und kürzte die Vergütung des Arbeitnehmers für den September 2022.
Hiergegen erhob der Arbeitnehmer Klage und beantragte im Wesentlichen die Zahlung der Entgeltfortzahlungsbeträge für den streitgegenständlichen Zeitraum im September 2022. Zur Begründung führte er aus, er sei im September 2022 arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Das Attest des tunesischen Arztes stelle eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dar, deren Beweiswert die Arbeitgeberin nicht erschüttert habe. Die Arbeitgeberin führte hiergegen aus, der Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung des tunesischen Arztes sei aufgrund der Gesamtumstände, insbesondere aufgrund des unterschiedlichen Inhalts der Bescheinigungen, des Verhaltens des Arbeitnehmers und der bereits in der Vergangenheit wiederholt im Zusammenhang mit Urlaubszeiträumen auftretenden Krankheitszeiten erschüttert.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Arbeitnehmers der Klage auf Entgeltfortzahlung stattgegeben, da aufgrund der Bescheinigung vom 17.10.2022 der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert sei. Das BAG hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf.
Das BAG stellte in seiner Entscheidung zunächst klar, dass im Grundsatz der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der gleiche sei, wie derjenige einer im Inland ausgestellten ärztlichen Bescheinigung. Dies gelte jedenfalls dann, wenn sie erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat. Allerdings könne der Beweiswert einer solchen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dann erschüttert werden, wenn nach einer Gesamtbetrachtung die Gesamtheit von Indizien zu hinreichenden Zweifeln am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führten. Diese Gesamtbetrachtung habe das Landesarbeitsgericht jedoch nicht vorgenommen, sondern nur einzelne Aspekte isoliert betrachtet. Im vorliegenden Fall spreche die Tatsache, dass der Arbeitnehmer trotz des ärztlich angeordneten Reiseverbots bereits am 29.09.2022 die Heimreise antrat, die Aus-stellung einer mehr als zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne wei-tere Begründung und unter Verzicht auf eine Wiedervorstellung zur Nachkontrolle sowie die sich in den Vorjahren immer wieder an den Jahresurlaub anschließenden Arbeitsunfähigkeitszeiten jedenfalls in ihrer Gesamtwürdigung für eine Erschütterung des Beweiswertes der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
Fazit:
Das BAG hat in Ergänzung seiner bisherigen Rechtsprechung deutlich gemacht, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert werden kann, wenn zwar einzelne Indizien für sich genommen keine durchgreifenden, jedoch in einer Gesamtschau hinreichende Zweifel an der Richtigkeit der attestierten Arbeitsunfähigkeit begründen.
Praxisrelevant ist auch der wiederholte Hinweis des BAG auf die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie, die unter anderem in § 5 Abs. 4 Satz 1 beinhaltet, dass die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht für einen mehr als 2 Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden soll. Darauf sollten Beschäftigte nach ärztlicher Rücksprache achten, wenn sie der Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorbeugen wollen. Im Übrigen sollten Beschäftigte insbesondere bei im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auf die Differenzierung zwischen Krankheit und einer etwaig auf dieser beruhenden Arbeitsunfähigkeit achten.
Nico Bischoff, Rechtsanwalt
Anwaltsbüro* Windirsch, Britschgi & Wilden
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