Wenn Sucht das Gehirn kapert
21.03.2024
Unternehmen, Wirtschaft & Finanzen
Autor: Reinhard F. Leiter, Executive Coach München
In Deutschland wird nicht nur fleißig gearbeitet, sondern auch kräftig konsumiert - von Tabak und Alkohol bis hin zu illegalen Drogen wie Cannabis, Kokain und Amphetaminen. Die Zahlen sind alarmierend: Rauchen allein führt zu rund 127.000 Todesfällen jährlich und 4,4 Millionen Menschen sind tabakabhängig. Alkohol ist ebenfalls ein großes Problem. Zwar ist der Alkoholkonsum in den letzten 40 Jahren zurückgegangen, aber er ist immer noch präsent. Im Jahr 2018 hatten 3 Millionen Erwachsene alkoholbezogene Störungen, 1,4 Millionen missbrauchten Alkohol und 1,6 Millionen waren alkoholabhängig.
Aber das ist noch nicht alles - Medikamentenabhängigkeit, illegaler Drogenkonsum und nicht-stoffgebundene Süchte wie Spiel- und Esssucht nehmen ebenfalls zu. Etwa 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen sind medikamentenabhängig, während 15,2 Millionen Erwachsene und 481.000 Jugendliche mindestens einmal eine illegale Droge konsumiert haben. Am weitesten verbreitet ist Cannabis, gefolgt von Amphetaminen, Ecstasy und Kokain. Etwa 309.000 Personen sind cannabisabhängig, 41.000 kokainabhängig und 103.000 sind abhängig von Amphetaminen. Darüber hinaus sind in Deutschland etwa 200.000 Menschen glücksspielsüchtig und knapp 230.000 zeigen ein problematisches Spielverhalten.
Sogar in der Welt der Bits und Bytes gibt es Suchtprobleme: Mehr als drei Millionen jugendliche Spieler und 465.000 Risikospieler sind abhängig von Computerspielen und ein beachtlicher Anteil - rund 2,5 Prozent der Jugendlichen - verliert sich in den sozialen Medien. Und wer glaubt, Arbeitssucht sei nur ein Mythos, der irrt gewaltig. 5 Millionen von 46 Millionen Erwerbstätigen arbeiten exzessiv und können in ihrer Freizeit kaum abschalten. Mit anderen Worten: Sie sind arbeitssüchtig.
Sucht trifft uns alle - auch das Management und Unternehmer
Aber es betrifft nicht nur das gemeine Volk. Auch gestandene Unternehmerpersönlichkeiten und Führungskräfte sind nicht davor gefeit, der Sucht zu verfallen. Prominente Zocker aus der Wirtschaft sind Erwin Müller, Milliardär und König der Drogeriemärkte, und Uli Hoeneß, damals Präsident des FC Bayern München und im Nebenberuf Wurstfabrikant. Der wohl tragischste Fall ist der des schwäbischen Unternehmers Adolf Merkle, der mit riskanten Wetten auf Volkswagen-Papiere sein Industrieimperium aufs Spiel setzte. Merkle, der Konzerne wie Heidelberg Cement und Ratiopharm kontrollierte, starb am 5. Januar 2009, nachdem er sich zwischen Neustadt und Ulm vor einen Zug geworfen hatte. Uli Hoeneß gestand in der "Zeit", dass die Phase, in der er zu jeder Tages- und Nachtzeit mit den Banken telefonierte: "der Kick war, das pure Adrenalin".
Was sie alle angetrieben hat, ist ein kleines Molekül namens Dopamin - der Glücksbote, der uns alle süchtig nach dem nächsten Kick macht. Ganz gleich, ob wir am Pokertisch sitzen oder an der Börse zocken, ob Alkohol, Kokain oder amphetaminhaltige Drogen im Spiel sind, Dopamin ist immer dabei, um uns in den Wahnsinn zu treiben.
Zehnmal stärker als Sex
Die zentrale Maßeinheit dafür, wie stark die Sucht das Gehirn manipuliert, ist der Dopaminlevel. Nikotin pusht den Dopaminspiegel um 200 Prozent, Kokain um 400 Prozent und Amphetamine um sagenhafte 1000 Prozent. Sex dagegen bringt gerade mal ein Plus von 100 Prozent. Psychologen sind überzeugt, dass Spielsucht eine ähnlich starke Abhängigkeit erzeugt wie ein Großteil der klassischen Drogen.
Die erschreckende Parallele zur Alkohol- oder Kokainsucht: Ab einem bestimmten Zeitpunkt setzt auch bei den Finanzzockern nur noch der Börsenkick das ersehnte Dopamin frei. Alles andere empfinden sie als fad oder öde. So wie ein Alkoholiker, der die Dosis immer weiter steigern muss, gewöhnen sich auch Trader an ein bestimmtes Risikolevel und werden von dem unwiderstehlichen Drang getrieben, noch mehr zu riskieren.
Bei all der Ausschüttung von Glückshormonen verlieren die Betroffenen allzu leicht den Blick für den enormen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schaden, den ihre Sucht anrichtet. Die Suchtbekämpfung ist neben dem Klimawandel und dem Demografieproblem - jährlich fehlen 400.000 Fachkräfte - die größte Herausforderung, der sich unsere Gesellschaft stellen muss.
Gefahr erkannt - Gefahr gebannt? Was sind die Ursachen von Sucht?
Die moderne Hirnforschung hat herausgefunden, dass zwischenmenschliche Beziehungen, insbesondere Beachtung, Zuwendung und Anerkennung, eine wahre Party im Gehirn auslösen können! Dafür sorgen Endorphine, Oxytocin, Serotonin, Dopamin und Adrenalin. Endorphine, die beim Sport und Lachen freigesetzt werden, sind die ultimativen Schmerzkiller und lassen uns auf Wolke sieben schweben. Oxytocin, das bei Umarmungen ausgeschüttet wird, sorgt für Entspannung und Glücksgefühle. Serotonin, der Stimmungsmacher, reguliert Appetit und Schlaf. Dopamin, der Motivator, treibt uns an und beeinflusst unsere Entscheidungen - ob beim Liebesspiel oder unter dem Einfluss einer guten Partydroge. Und dann gibt es noch das Stresshormon Adrenalin, das uns in Notfallsituationen zu Höchstleistungen antreibt. Zusammen sorgen diese Botenstoffe für ein wildes Feuerwerk an Emotionen - von Glücksgefühlen über Zugehörigkeitsgefühl bis hin zu Kampfbereitschaft.
Sucht ist der vergebliche Versuch, ein wesentliches Bedürfnis durch Ersatz zu stillen
Um der individuellen Sucht zu frönen, steht uns eine bunte Palette von Substanzen zur Auswahl: Zucker, Nikotin, Alkohol, Medikamente - von Schmerzmitteln über Designerdrogen bis zu harten Drogen wie Kokain und Opiaten. Genauso breit wie die Palette an Suchtsubstanzen sind auch die mitunter daraus resultierenden Suchtgewohnheiten. Das Spektrum reicht von Beziehungs- und Sexsucht über Arbeits- und Esssucht bis hin zu Spiel-, Fernseh- und Computersucht sowie anderen Obsessionen wie dem Streben nach Jugendlichkeit oder Fitness.
Indem wir uns aus dem Giftschrank der Suchtmittel bedienen, um unsere Antriebslosigkeit zu bekämpfen oder unsere defizitären sozialen Bindungen zu kaschieren, mixen wir uns einen fatalen Cocktail aus Missbehagen, Verstimmung, Vereinsamung und einer Vielzahl weiterer düsterer Emotionen. Letzter Stopp auf diesem Psycho-Trip sind dann nicht selten psychosomatische Leiden wie Niedergeschlagenheit, völlige Erschöpfung, Herzinfarkte und im schlimmsten Fall sogar der eigene vorzeitige Tod.
In einer Welt voller Verlockungen ist es schwer, nicht süchtig zu werden. Aber vielleicht ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen, was uns wirklich glücklich macht. Oder um es mit den Worten des Psychotherapeuten Wolf Büntig zu sagen: "Wenn das Süße im Leben fehlt, kann es nicht durch Zucker ersetzt werden".
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