Industrie 4.0: Rettungsanker für den Produktionsstandort Deutschland?
10.06.2014
PC, Information & Telekommunikation
Wiesbaden, 10. Juni 2014. "Wenn wir die Produktion in Deutschland halten und damit Deutschland "retten" wollen, müssen wir den Wohlstand vom Ressourcenverbrauch entkoppeln, und das gelingt mit den cyber-physischen Systemen", ist Birgit Vogel-Heuser sicher. Im Interview mit dem Wissensportal Springer für Professionals warnt die Leiterin des Lehrstuhls für Automatisierung und Informationssysteme der TU München zwar vor dem inflationären Gebrauch des Begriffs "Industrie 4.0" und den damit verbundenen Missverständnissen und Gefahren. Dennoch aber würden Cyber Physical Systems (CPS) die Produktionsprozesse so grundlegend verändern, dass man von einem Paradigmenwechsel sprechen könne, der der Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz dient. Im Springer Vieweg-Fachbuch Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik versammelt Vogel-Heuser gemeinsam mit Michael ten Hompel und Thomas Bauernhansl als Herausgeber Wissenschaftler und Experten, die die Kernelemente von Industrie 4.0 und deren Anwendungsnutzen herausarbeiten.
"Natürlich ist nicht überall Industrie 4.0 drin, wo es drauf steht. Viele Anbieter schwimmen bisher nur auf der Welle mit", fasst Michael ten Hompel den aktuellen Hype zusammen, der auf der Hannover Messe 2014 deutlich geworden sei. Der vom Marketing zuweilen überstrapazierte Begriff führe zu einer Verwässerung des Themas, räumt der Experte ein. Ob aber als kontinuierliche Fortentwicklung oder, wie es häufig in den Medien geschehe, als vierte industrielle Revolution behandelt: für Bauernhansl ist Industrie 4.0 der Rettungsanker für den Produktionsstandort Deutschland, der sich gegen zunehmende Konkurrenz, vor allem aus China, behaupten müsse. Denn cyber-physische Systeme in Anlagen und Maschinen könnten sich selbst organisieren, seien kommunikationsfähig und intelligent: "Ein technisch-soziales Netzwerk, das dem entspricht, was heute in Social Media bei Facebook, Twitter und Co. unter den Menschen läuft." Ermöglicht werde das mit einer neuen Internettechnologie, um die Ziele von Industrie 4.0 - Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz - zu erreichen.
Als Beispiel führt Thomas Bauernhansl die Verwendung von Smart Grids an, die als Grundlage einer effizienten Energienutzung fungieren: "Das sind echtzeitfähige Netzwerke von Energieerzeugern, -verbrauchern und -speichern. Wenn sie intelligent gesteuert werden, kann man eine Menge Energie sparen. Beispielsweise, indem man aus dem einen Produktionsprozess Energie rückgewinnt und in einen anderen einspeist." Die intelligente Steuerung des Verbrauchs im Rahmen von Industrie 4.0 leiste demnach einen wichtigen Beitrag zur Energiewende. Natürlich aber berge die neue Vernetzung auch Gefahren, so der Autor weiter. Cyber-physische Systeme stellten zum Beispiel völlig neue Anforderungen an die Datensicherheit: "Gemeinsam genutzte sensible Daten müssen so sicher in der Cloud aufbewahrt werden wie die US-Goldreserven im legendären Stützpunkt Fort Knox." Nach Meinung von Bauernhansl ist es wichtig, Vertrauen in die gemeinsam entwickelten Sicherheitsstandards zu schaffen. Einen Wettbewerbsvorteil könnten Unternehmen in Deutschland nur durch die Nutzung vernetzter Plattformen gewinnen. Darüber hinaus sei sinnvoll, Industrie 4.0 nicht nur technologie-, sondern auch marktgetrieben zu betrachten, so Vogel-Heuser. Um das Potential in der industriellen Praxis zu demonstrieren, stellen Use Cases im Fachbuch die spezifischen Anwendungen aus Sicht einzelner Branchen dar. Für die Herausgeberin entscheidend: "Wenn die Unternehmen nicht verstehen, was es ihnen bringt, ziehen sie nicht mit. Wenn es aber nicht zu einer kritischen Masse an Anwendern und natürlich auch Anbietern kommt, die sich auf Standards einigen, geht das Thema genauso schnell unter wie es aufgepoppt ist."
Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl leitet das Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) der Universität Stuttgart, das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart sowie das Institut für Energieeffizienz in der Produktion (EEP) der Universität Stuttgart. Außerdem ist er wissenschaftlicher Beirat der nationalen Plattform Industrie 4.0.
Prof. Dr. Michael ten Hompel ist geschäftsführender Leiter des Fraunhofer-Institutes für Materialfluss und Logistik und Ordinarius der TU Dortmund. Zuvor gründete er das Software-Unternehmen GamBit, das er bis zum Jahr 2000 führte. Er gilt als einer der Väter des Internets der Dinge, ist Mitglied der "Logistik Hall of Fame" und wissenschaftlicher Beirat der nationalen Plattform Industrie 4.0.
Prof. Dr.-Ing. Birgit Vogel-Heuser leitet den Lehrstuhl für Automatisierung und Informationssysteme der TU München. Sie verfügt über langjährige Industrie- und Hochschulerfahrung im Bereich der System- und Softwareentwicklung verteilter, intelligenter und eingebetteter Systeme für Industrie 4.0.
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