Die Wege der tausend Erinnerungen
12.08.2011
Kunst & Kultur
Worin liegt die Schönheit unserer Welt, die der Autor dieses Buches auf so ganz eigene Art betrachtet? Im Kleinen liegt sie, im Unscheinbaren. Denn dort harrt das wahrhaft Kostbare darauf, entdeckt zu werden.
Dort tun sich dem Leser, der die Welt durch Ralph Müllers Augen betrachtet, ganz neue Ansichten auf. Jede Geschichte ist eine Blüte, die sich dem Leser zutraulich und einladend öffnet. Er muss sie nur betrachten und in ihrer Einzigartigkeit verstehen wollen. Oft fürchten wir uns vor dem Neuen und verkriechen uns in der Stube unserer Gewohnheiten. Doch Ralph Müllers Geschichten ermutigen, hinauszugehen und die Umwelt eingehender in Augenschein zu nehmen.
Die Sicht in neue Bahnen gelenkt und den Schleier der Gewohnheit von den Augen gewischt, gewinnt zuvor als Schattenriss Wahrgenommenes nach Lektüre dieser in einem Band vereinten 15 Erzählungen an Klarheit und besonderer Bedeutung. Auf einmalige Art und Weise stehen in den Geschichten Menschen, Natur, Erinnerung mit Gegenwart im Dialog mit- und zueinander.
Der Autor bedient sich dabei einer von Klischees unbelasteten Sprache, um Phantastisches in Worte zu fassen und Alltägliches in ein verzaubertes Prachtgewand zu kleiden und um tiefgründig Philosophisches leicht verständlich auszumalen.
Übersinnliches findet sich - oder ist es nur allzu sinnlich? Wahrgenommen von Sinnen, die verschüttet sind und nur darauf warten, geweckt zu werden? - in beinahe jeder Geschichte. Elfen, Lichtgestalten, Visionen: Helfer, die verdeutlichen, erklären und trösten. Ihr Auftreten bekräftigt den Grundton dieses Buches, nämlich die verborgene Schönheit, das Wesen, das Herz und die wahrhaftige Qualität des Augenblicks und der Natur zu entdecken. Um es frei nach Antoine de Saint-Exupery zu sagen: Man sieht nur mit dem Herzen gut!
Zum Beispiel in der märchenhaften Erzählung "Elfenreigen", in der die Erlebnisse des jungen Sebastian zutiefst berühren. Hier verliert der Tod seinen Schrecken. Aber was ist mit dem Leben, das noch viel beängstigender sein kann? Ralph Müller zeigt auf, wie man gestärkt auch die schwierigsten Windungen des Lebenspfades meistern kann.
Als roter Faden zieht sich die Betrachtung der Natur durch die Geschichten. Erinnerungen, wie schon der Titel des Buches verrät, sind der Quell aus dem die Betrachtungen der Charaktere in den Geschichten schöpft. Erinnerungen an die Großmutter, die der Natur noch so stark verbunden war, Erinnerung an die Kindheit, Erinnerungen aller Art und wie wir sie vielleicht alle kennen entfalten sich wie ein Bilderreigen. Nicht nur entfernte, verblassende Blitzlichterinnerung, sondern intensiv gefärbtes Gedenken.
Vergänglichkeit mischt sich mit hoffnungsvollem Erblühen, das an die Kraft der Erde gemahnt, die im Übermaß um uns herum zu finden ist und nur allzu oft unbeachtet bleibt, weil wir sie in aller Eile und vor lauter Vernunft zu missachten gelernt haben.
Halten wir aber inne und lernen neu, eben jene Energien zu respektieren und zu nutzen, uns also als Teil dieses einmalig fein abgestimmten Kreislaufes zu erkennen, gewinnen wir auch das zurück, wozu das Leben geschaffen ist: Freude und zärtliche Dankbarkeit.
Wunderbares Beispiel dafür ist "Novembererinnerung", wo ein Schriftsteller geplagt von der Schreibblockade hinausgeht in die kühle, feuchte Herbstlandschaft, welche ihm Inspiration schenkt und der er freudig als Instrument dient: Er dachte an die weißen Blätter zu Hause, aus denen er eine Geschichte herauszaubern wollte und lächelte. Lächelte wissend um die Geschichte auf der Microkassette, die ihm der Novembermorgen diktiert hatte.
"Die Wege der tausend Erinnerungen" ist ein starkes Erstlingswerk in dem Ralph Müller die Hürden, welche jeder Autor nehmen muss, mit Bravour meistert. Seine Sprache ist bildhaft ohne selbstverliebt oder Adjektiv überladen zu sein, die Charaktere überzeugen durch gefühlvolle Ausarbeitung und geschickt angewandte Metaphern und Aphorismen prägen seinen Stil.
Die Titelgeschichte zum Beispiel beginnt mit der Begegnung zweier Menschen, einem alten und einem jungen Mann, die rein oberflächlich kaum Gemeinsamkeiten aufweisen, doch ist jeder zu seiner Zeit ein Neuankömmling wie die Schwäne auf dem See, an dem die zwei Männer zusammentreffen.
Im Gespräch tauschen sie Erfahrungen aus und erkennen wie vieles doch oft unter dem Augenscheinlichen verborgen liegt.
Eine besonders eindrucksvolle Passage ist für mich: "Ich weiß jetzt, was Sie in Ihrem begnadeten Leben immer weiter trieb (...) Es sind die Wege der tausend Erinnerungen, die wir in der Zeit unserer unzähligen Leben gehen. Die wir ahnungslos mit guten und schlechten Taten pflastern. Um sie irgendwann noch einmal aufmerksam zu beschreiten. Da am Ende des Weges der große Preis auf uns wartet. Die Vollkommenheit. Das Ebenbild Gottes."
Nicht den großen, ausschweifenden oder gar Action geladenen Begebenheiten widmet sich dieses Buch, sondern sanfter, leiser Betrachtung auf 141 Seiten, die nie langweilig werden, zu neuen Gedankengängen anregen und Lebensfreude aus dem Winterschlaf wecken.
"Die Wege der tausend Erinnerungen" ist ein wunderbares Buch für einen Schmökernachmittag, dem mit Sicherheit noch weitere folgen werden, weil das Buch dazu verführt, es immer wieder zur Hand zu nehmen, darin zu lesen und Kraft zu tanken.
Tanja Schröder
Die Wege der tausend Erinnerungen. Erzählungen
ISBN 978-3-86268-429-8
2011 - Engelsdorfer Verlag
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