Rückkehr zur Stechuhr durch Urteil des EuGH?
06.06.2019
Politik, Recht & Gesellschaft
Die europäische Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeit (Art. 3, 5 und 6) und die europäische Richtlinie über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes (Art. 4 Abs. 1, 11 Abs. 3 und 16 Abs. 3) erfordern, dass die Mitgliedstaaten der EU die Arbeitsgeber verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
EuGH, Urteil vom 14.5.2019 - C-55/18
Leitsatz der Verfasserin
Der Fall kommt aus Spanien. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit beträgt dort im Jahresdurch-schnitt 40 Wochenstunden, die tägliche Ruhezeit mindestens 12 Stunden. Der Arbeitgeber war (lediglich) verpflichtet, die Überstunden aufzuzeichnen (dies wurde aufgrund des Urteils des EuGH bereits geändert). Bei der Niederlassung der Deutschen Bank in Spanien gibt es kein betriebsinternes System zur Erfassung der von den Arbeitnehmern geleisteten Arbeits-zeit. Aufgrund einer Klage einer großen spanischen Gewerkschaft, die die Einrichtung eines solchen Systems von der Deutschen Bank verlangt, hat der spanische Nationale Gerichtshof ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH eingeleitet und ihm Fragen zur Auslegung des europäischen Rechts gestellt.
Die Antwort des EuGH:
Die europäische Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeit schreibt eine tägliche Ruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden (Art. 3), eine wöchentliche Mindestruhezeit von 24 Stunden in einem Bezugszeitraum von bis zu 14 Tagen (Art. 5, 16) und eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden in einem Bezugszeitraum von bis zu 4 Monaten (Art. 6, 16) vor. Die in Art. 17 ff. geregelten Möglichkeiten, davon abzuweichen, spielen in dem Urteil des EuGH keine Rolle. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Art. 3, 5 und 6 müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jedem Arbeitnehmer die vorgeschrieben Ruhezeit gewährt und die Höchstarbeitszeit nicht überschritten wird. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass den Arbeitnehmern diese Rechte tatsächlich gewährt werden, sie also nicht nur "auf dem Papier stehen". Das ergibt sich auch aus Art. 31 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, nach dem jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen hat. Ob diese Rechte tatsächlich beachtet wurden, kann, so der EuGH, ohne eine objektive und verlässliche Feststellung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit nicht überprüft werden. Dazu reicht ein System zur Erfassung von Überstunden nicht aus. Denn die Qualifizierung als Überstunden setzt voraus, dass die Dauer der vom jeweiligen Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit bekannt ist. Deshalb muss zunächst die Arbeitszeit gemessen werden.
Hat das Urteil Bedeutung für Deutschland?
Dies ist eindeutig mit "ja" zu beantworten. Nach § 16 Abs. 2 ArbZG ist der Arbeitgeber (lediglich) verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 (8 Stunden, bei Ausgleich innerhalb von 6 Kalendermonaten bis zu 10 Stunden) hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen. Lediglich für einzelne Bereiche (z.B. im Mindestlohngesetz und für den Straßentransport) gibt es in Deutschland Aufzeichnungspflichten zur gesamten Arbeitszeit. Mit der Verpflichtung, lediglich die Mehrarbeit aufzuzeichnen, werden die im Leitsatz genannten Richtlinien nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Deshalb muss § 16 Abs. 2 ArbZG geändert werden. Spielraum hat der Gesetzgeber bei der Regelung der Anforderungen an das Erfassungssystem.
Mittelbare Bedeutung hat das Urteil auch für die Vergütung von Überstunden. Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG sind sie im Regelfall nicht zu vergüten, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis hat, dass sie geleistet wurden. Mit der Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit muss der Arbeitgeber in Zukunft auch zur Kenntnis nehmen, dass Überstunden tatsächlich geleistet wurden. Eine andere Frage ist, ob auch ein Anspruch auf Überstundenvergütung besteht. Dies richtet sich nach den einschlägigen tarifvertraglichen und arbeitsvertraglichen Vereinbarungen, gegebenenfalls auch nach § 612 BGB.
Fazit:
Die vielfache Kritik an dem Urteil ("Bürokratiemonster", "Rückkehr zur Stechuhr", "aus der Zeit gefallen") ist reine Polemik. Dazu steht in Widerspruch, dass die Zahl der Beschäftigten und Betriebe, in denen die Arbeitszeit in Arbeitszeitkonten festgehalten wird, von Jahr zu Jahr zunimmt. Nur eine Minderheit von Beschäftigten in einer Minderheit von Betrieben arbeitet in einem System der Vertrauensarbeitszeit, bei der die Arbeitszeit üblicherweise vom Arbeitgeber nicht erfasst wird (Deutscher Bundestag, Drucksache 19/506, S. 9 ff.). Auch diese Arbeitgeber werden in Zukunft dafür sorgen müssen, dass die Arbeitszeit aufgezeichnet und die gesetzlichen Bestimmungen über den Gesundheitsschutz beachtet werden. Wie dies unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Vertrauensarbeitszeit zu geschehen hat, muss der Gesetzgeber entscheiden.
Ingrid Heinlein, Rechtsanwältin, Vors. Richterin am LAG a.D.
Bell & Windirsch, Britschgi & Koll, Anwaltsbüro
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