Was uns berührt und unter die Haut geht
08.07.2011
Kunst & Kultur
Bonn, 8.7.2011 Beim 10. Petersberger Forum der Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG (www.petersberger-forum.de) wurde am 6. Juli 2011 intensiv das Thema "Jubiläum - Was uns bewegt" diskutiert. Heiner Geißler, Bundesminister a. D. und Streitschlichter u. a. bei Stuttgart 21, der Hirnforscher Gerald Hüther und die Moderatorin und TV-Produzentin Tita von Hardenberg referierten über aktuelle Themen, die sie bewegen. 500 Gäste aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ließen sich bewegen und diskutierten mit.
Der Hirnforscher, Autor und Präsident der Sinn-Stiftung, Gerald Hüther stellte zu Beginn die Frage "Vieles bewegt uns. Doch wohin bewegt es sich?" Am Beispiel des ältesten Teilnehmers beim letzten Marathon in London, eines 100jährigen Mannes, empfahl er dem Publikum, sich stets daran zu orientieren, wo es langgehen kann und sich nicht mit dem Durchschnitt zufrieden zu geben. Die Hirnforschung habe in den letzten Jahren einige wichtige Erkenntnisse erlangt. Die Begrenzungen des Einzelnen bestünden durch Vorstellungen im Kopf. Die im Kontext gemachten Erfahrungen würden sich zu einer Haltung, einer Einstellung verdichten. Durch neue Erfahrungen lerne das Gehirn und die Menschen könnten zu neuen Einstellungen kommen. "Unser Hirn wird erweitert, wenn wir es mit Freude und Begeisterung nutzen. Was Sie bewegt, muss unter die Haut gehen, Sie berühren - dann werden emotionale Zentren im Mittelhirn aktiviert, neuroplastische Botenstoffe und damit neue Eiweiße für die Nervenzellen gebildet. Dieser "Dünger" ist das wichtigste", so Hüther.
Hirnforscher Hüther: Ohne Erfüllung der Sehnsucht leidet der Mensch und sucht Ersatzbefriedigung
Es gelte das Prinzip der Selbstorganisation. Jeder Mensch komme mit einem enormen Potenzial zur Welt, werde geprägt durch seine Umwelt und könne doch jederzeit durch neue Verhaltensmuster, neue "Schaltungen" sein Gehirn erweitern, neu dazu lernen, bis ins hohe Alter. Jeder Mensch habe zu Beginn seines Lebens im Mutterleib zwei existenzielle Erfahrungen gemacht, die des autonomen und freien Wachsens und die der ganz engen Verbundenheit mit einem Menschen. Die daraus entstandenen Sehnsüchte müssten im Leben beide erfüllt werden, sonst leide der Mensch und Ersatzbefriedigungen aller Art würden gesucht werden.
Der bisher auf Ausplünderung der Ressourcen ausgelegten, durchorganisierten Gesellschaft und der Politik empfahl Hüther, verstärkt auf eine Potenzial-Entfaltungskultur zu setzen: "Die Verantwortlichen können neue Rahmenbedingungen schaffen, die das Gelingen in den Vordergrund rücken. Denn im Gelingen steckt die Erkenntnis, wie es sein könnte. Wir wissen, was Mitarbeiter brauchen, was kranke Menschen brauchen, wie Beziehungen gelingen können, wie das Kuchen backen gelingen kann."
TV-Macherin Tita von Hardenberg sieht beim Fernsehen Defizite: Die Lage ist ernst
Die Fernsehmoderatorin und Produzentin Tita von Hardenberg stellte sich die Frage: "Arbeite ich für ein sterbendes Medium?" Junge Leute würde heute etwas anderes bewegen und interessieren, würden anders sozialisiert, hätten andere Erwartungen und ein anderes Denken als vorhergehende Generationen.
Dies würde die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, mit voller Wucht und sinkenden Zuschauerzahlen treffen. Während die privaten Sender bei der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 19- Jährigen mit Sendungen wie "Das Dschungel-Camp" punkten würden, liege das Durchschnittsalter bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern wie ARD und ZDF bei 60 Jahren. "Junge Menschen sehen das Fernsehen nur als ein Medium von vielen, nutzen parallel dazu Onlinekanäle wie Twitter und Facebook oder internationale Sender wie BBC oder Al-Jazeera. Diese Lagefeuer 2.0 - Generation will zeitunabhängige Angebote nutzen", so von Hardenberg, die als Produzentin Sendungen für den neuen Kanal ZDF-Kultur entwickelt hat.
Kritik an einseitiger TV-Berieselung
Sie stellte fünf Thesen zum kommenden Medienverhalten junger Menschen auf: Nutzer würden permanent verschiedene Quellen checken, Zuschauer müssten ernst genommen werden, Moderation und Redaktion müssten wesentlich mehr direkt Rede und Antwort dem mündigen Zuschauer stehen, eine einseitige Berieselung reiche längst nicht mehr aus und der Look und Stil von Sendungen müsste erneuert werden. Tita von Hardenberg lieferte zum Schluss die Antwort auf Ihre eingangs gestellte Frage nach dem sterbenden Medium mit den Worten: "Die Lage ist ernst für mein Medium Fernsehen, aber nicht hoffnungslos."
Geißler: Bürger nimmt überheblichen Machtgebrauch nicht mehr hin
Heiner Geißler, Politiker und Schlichter seit vielen Jahren, leitete seinen Vortrag mit dem Titel "Bürgeraufstand und Demokratie" mit den Worten ein: "Wer sind diese Menschen, die sich engagieren, sich für Volksbegehren einsetzen? Die üblichen Verdächtigen wie linke Demonstranten, verkappte Terroristen oder Wutbürger? Was steckt dahinter?" Für ihn entzünden sich Bürgeraufstände an bestimmten Ereignissen und sind begründet im herrschenden faustischen Machbarkeitswahn, in den Auswüchsen des Kapitalismus. Politische und wirtschaftliche Machthaber des Nordens hätten die Macht, aus finanziellen Gründen die Menschen risikobehafteten Gefahren auszusetzen, wie z. B. die Bankenmanager während der Finanzkrise ab 2008, die Ölpest-Katastrophe im Golf von Mexiko im letzten Jahr oder die Verschüttung von 33 Bergarbeitern im Bergwerk von Chile im August 2010.
Nach Geißlers Meinung gehe es zu oft darum "auf Kosten der Menschen Geld zu sparen oder zu machen". Gewinne könnten nur durch Sparen gemacht werden. Dieses Sparen sehe er auch bei der Deutschen Bahn. "Die Bahn ist die Bahn des Volkes. Dieser Public Service ist für alle da. Es geht nicht darum, nur rentable Strecken zu betreiben", so Geißler. Durch den Privatisierungswahn sei der Service schlechter geworden, alles werde entpersonalisiert, automatisiert. Menschen würden zu Kunden degradiert.
"Das stets genannte Kostenargument ist ein Scheinargument. Es gibt auf der Welt Geld wie Heu, es ist nur komplett falsch verteilt. Täglich werden Milliarden an den Börsen hin- und hergeschoben", meint Geißler. Spekulanten und Devisenhändler würden sich mit keinem Cent an den Menschheitsaufgaben beteiligen. Die von ihm bereits vor drei Jahren geforderte Finanztransaktionssteuer würde nun endlich in der Politik, auch in der EU diskutiert werden.
Für Geißler lautet die Kernfrage: "Sind die Politiker in der Lage, sich gegen diese wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen?" Die Menschen glauben nach seiner Einschätzung nicht mehr daran, dass die Politik dies könne. "Und dann fühlen sich die Menschen persönlich betroffen, haben Angst um ihr Geld, wissen nicht wer dahinter steckt, stehen auf und sagen "Da machen wir nicht mehr mit", so Geißler.
Man hat sich an das Prekariat gewöhnt
Das seien Ausuferungen des angelsächsischen Kapitalismus, eine soziale Marktwirtschaft gebe es nicht mehr. Es herrsche eine Gewöhnung an das Prekariat, an 7 Millionen geringfügig Beschäftigter und 6 Millionen Hartz IV Empfänger. Doch was könne man tun? Eine Antwort habe mit den Bürgeraufständen zu tun. Geißler: "Die Leute wissen Bescheid, wollen richtig beteiligt werden. Am Anfang muss die Idee stehen. Dann muss es Grundsatzdiskussionen zwischen Politik und den Menschen geben. Ein folgender Faktencheck inklusive Diskussionen muss über die Medien erfolgen, bevor eine Bürgerbefragung bzw. eine Volksabstimmung folgt. Bei einer positiven Entscheidung folgt dann Phase zwei mit der Entwicklung von Alternativen, die wieder zur Abstimmung vorgelegt werden. Der Plan mit der Mehrheit wird dann durchgesetzt." So mache es die Schweiz mit jedem Projekt. Durch die Beteiligung der Bürger entstehe mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung. Totale Transparenz und kontinuierliche Information sei nötig. Dadurch könne die Glaubwürdigkeit in die deutsche Demokratie zurückgewonnen werden, ist sich Geißler sicher.
Der Gastgeber: Die guten alten Zeiten sind vorbei - bessere stehen an
Gastgeber und Verlagsvorstand Helmut Graf ging in seinem Rückblick auf die seit 2002 jährlich stattfindenden Petersberger Foren auf die bisherigen Themen und wichtigen Ereignissen in den letzten Jahren ein. Das zehnjährige Jubiläum mit den bisher insgesamt 5.000 Gästen zeige das Interesse der Menschen an der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen. "Ein Jubiläum ist auch immer ein Abschluss, eine Befreiung, dass was Neues kommt. Das Jubiläum liefert stets einen Rückblick und einen Impuls für die Zukunft", so Graf.
Was uns bewegt - dieser Satz habe es in sich. Je länger man darüber nachdenke, umso mehr komme man auf grundsätzliche Fragen des Lebens, ob man glücklich oder unzufrieden ist, wie man seine Aufgaben bewältigen kann, welchen Sinn und welche Ziele das Leben hat. Für ihn sei Leben Bewegung und er wünschte jedem Gast, das er nach dem Forum sagen könne: "Ich bin bewegt." Als Motivation gab Graf den Gästen mit auf den Weg: "Die guten alten Zeiten sind vorbei. Bessere stehen an."
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