Corona-Krise verdeutlicht bestehendes Defizit: Digitales Controlling muss ins Pflichtenheft der ERP-Anbieter
04.08.2020
Unternehmen, Wirtschaft & Finanzen
Wir alle leiden unter der Corona-Krise: Deutschland und Europa haben in mehreren Stufen mal wieder mit einer Liquiditätsschwemme geantwortet. Die Kehrseite ist natürlich die ausufernde Verschuldung. Geld kostet ja nichts mehr!
Am Ende hat dieser Stil jedoch seinen Preis. Denn Innovationen finden woanders statt und die Staatsschulden bleiben in Deutschland. Die Flutwelle billigen Geldes zementiert diese alten Strukturen. Künstlich werden nicht mehr lebensfähige Unternehmen (Zombies) über Wasser gehalten. Diese besetzen die Kapazitäten und den Innovationsdruck, in den kreative, innovative Unternehmen vorstoßen könnten.
Es gibt auch Anlass zur Hoffnung. So zeigt eine Analyse Aufschluss, dass in konkreten Fällen deutsche Unternehmen mithilfe plattformbasierter Tools moderne Kalkulations- und Wettbewerbsanalysen eingesetzt haben, um ihre Wettbewerbsnachteile zu identifizieren und sich Stück für Stück zu modernisieren. Herausforderung für hiesige IT-Dienstleister und ERP-Anbieter ist es, dieses Potential für sich als Business selbst zu erkennen.
Mit der Niedrigzinspolitik der 2010er Jahre begann eine strukturell-kulturelle Veränderung des Wirtschaftens - makroökonomisch wie für einzelne Firmen. Das erst jüngste verhandelte 1,8 Billionen EUR Paket des EU-Gipfels in der Folge der zwei Nachtragshaushalte der Bundesregierung um insg. 147 Mrd. EUR ist für sich selbst sprechend. "Geld löst Probleme", lautet scheinbar die Arbeitshypothese. Das Solidaritätsverständnis dieser EU-Gipfel gleicht einer Haftpflichtversicherungsmetalität einiger Mitgliedsstaaten. Die Niedrigzinspolitik hält nach wie vor viele Zombieunternehmen am Laufen.
Bereits vor der Coronakrise war die Botschaft auf IT-Fachmessen und Konferenzen und Kongressen eindeutig:
Nicht nur im öffentlichen Sektor hat Deutschland einen hohen Nachholbedarf im Themenfeld der Digitalisierung. Gelingt es zukünftige Software-Anwender und Investitionsentscheider von den Mehrwerten zu überzeugen, fokussiert sich das Innovationsverständnis häufig auf Business Process Improvements. Doch das ist zu kurz gedacht, da mit dem Digitalisierungsverständnis regelmäßig die radikale Infragestellung des Prozessverständnisses einhergeht. Dieser Ansatz wird als Business Process Reengineering verstanden. Die Chance liegt darin, dass durch die kreative Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen nach der Effektivität (Perspektive, Wirkungen und Ziele) mithilfe digitaler Technologien ganz neue Aufgaben, Prozesse und Leistungen; sowie der Möglichkeit zur Durchführung von Wettbewerbs- und Leistungsvergleichen zum Vorschein kommen. Bezogen auf betriebliche Rechnungswesenprozesse in deutschen Unternehmen bestehen für ERP-Anbieter, Ökosystem-Anbieter und IT-Dienstleister für kaufmännische Rechnungswesenprozesse neue Boomjahre, sofern Investitionsentscheider vor Ort diese Chance für sich erkennen.
Seit der Coronakrise beschäftigt Unternehmensentscheider weiterhin die Frage, wie tief die Produktivitäts- und Umsatzeinschnitte kurz- bis mittelfristig sind und wie diese auf den Unternehmenserfolg wirken. Hintergrund ist die Entscheidung zu Desinvestitionen bzw. Aussitzen von Ersatzinvestitionen in Standorte+Anlagen+Maschinen+Personal, etc. Diese zukunftsbezogene Frage kann betriebswirtschaftlich nicht mit Jahresabschlussinformationen vergangener Jahre beantwortet werden. Vielmehr braucht es eine ganzheitliche Perspektive und Bewertung, in der Umsatz, Kosten, Kapitaleinsatz und Leistungsverschiebungen zu möglichen oder vorhandenen Wettbewerbern und Ergebnis zusammenhängend betrachtet und anhand verschiedener Analyseobjekte, wie organisatorische Verantwortungsbereiche, Produkte, Projekte, Standorte etc. werden.
Unternehmen, die in der Corona-Krise agil den Hebel auf zielgerichtete Passung von neuem Umsatzniveau und nötigem Komplexitäts- und Kostenoverhead umlegen, werden die Krise meistern und eher als Krisengewinner mit dem benötigten Vorsprung im Markt hervorkommen.
Hier kann die Digitalisierung als enabler des Kostenmanagements und Controllings die bisherige Excellisten, Makroprogrammierungen und Datenübertragungen aus der Buchhaltung ablösen. Für einen modernen, effektiven Controllingansatz braucht es integrative Werkzeuge, eine strukturierte Value- Benchmark-Datenbank, Datenanalysen und eine Szenarienfähigkeit in Echtzeit und Dashboardoberflächen mit Drill-Down-Funktion.
Aufgrund des globalen Umfeldes, in dem sich fast alle Unternehmen befinden, sind Vergleichsdaten zum vorhandenen oder möglichen Leistungsabstand, zur Absatzleistung, Preis sowie wichtige Kostenpositionen von Standorten anderer Länder eine wichtige Datenerweiterung. Auf dessen Basis lassen sich tagesaktuelle Auswertungen und Leistungsbewertungen erschließen, Simulationen generieren und kritische Parameter durch Feststellung des vorhandenen Veränderungspotentials feststellen. Je nach Intelligenzgrad der eingesetzten Datenanalysesoftware wird ein digitales Controlling Realität, das einerseits ein echtes Business-und Risikocontrolling auf Augenhöhe von Entscheidern ermöglicht, statt den Arbeitsfokus auf Datensammlung und Aufbereitung zu legen.
Mittelgroße Unternehmen und Konzerne haben scheinbar mustergültig das deutsche 2-Kreissystem in ihrem Rechnungswesenssystem umgesetzt. Wenn man jedoch genauer in die Systematik hineinschaut, wird eine Schieflage des internen Rechnungswesens, der Kalkulation und des Controllings auch hier sehr deutlich. Unser Forschungsteam hat eine explorative Studie bei einem großen SAP-Mandat durchgeführt. Auch wenn diese Tiefenanalyse nicht repräsentativ ist, ist bei anderen Mandanten ein ähnliches Muster zu erwarten. Hier müssen weitere Untersuchungen folgen.
Auffällig sind folgende Aspekte:
• Führendes System ist Buchhaltung und Jahresabschluss, woraus sich Datenabhängigkeit und
• Hohe Grundkomplexität
• Veraltete Kalkulationssystematik bzgl. Zuschlagskalkulation, fehlende Verlustleistung
• Schwere Erklärbarkeit von Zahlen und Umlagen
• Fokus der Kosten- und Leistungsrechnung auf eine Kostenrechnung, sodass Leistungsgrößen aus dem Blickwinkel geraten
• Begrenzte Simulationsfähigkeit und fehlende Vergleichs- und Benchmarkfähigkeit, sodass Steuerungsanreize ausschließlich innenzentriert sind
• Separate Kalkulationssystematik für Dienstleistungen.
Es scheint als würde die bestehende klassische Konzeption der Kosten- und Leistungsrechnung, basierend auf den Lehrbüchern des 20. Jahrhunderts, in kleinen Schritten in Analogie zum Business Process Improvement evolutionär weiterentwickelt. Jedoch wird die eigentliche Effektivitätsfrage nicht gestellt, ob diese Analyse- und Kalkulationsergebnisse zu den richtigen Entscheidungen führen. Sofern der Vergleichsmaßstab eines SAP-Kunden zur Analyse seiner Zahlen sich ausschließlich auf die Plan-Ist oder den Zeitvergleich bezieht und eben nicht die Marktbetrachtung nutzt, ist es für jedes Unternehmen schwierig, die eigene Wettbewerbsstärke in ihrer Supply Chain oder im globalen Markt zu verstehen, geschweige denn, an ihr zu arbeiten. Erst in einer rational geführten Verhandlungssituation würden unterschiedliche Kalkulationen bzw. Ergebnisse zwischen Verkäuferunternehmen und Einkäuferunternehmen auffallen. Da von Softwareherstellern, insb. ERP-Anbietern, häufig die entscheidende Innovations- und Prozessführung ausgeht, ist zu wünschen, dass diese Firmen für sich als auch zum Wohle ihrer Kunden und des Wirtschaftsstandorts Deutschland das Business Process Reengineering im internen Rechnungswesen als Wachstumsmotor für sich entdecken.
Zur Problemauflösung können ERP-Anbieter und Ökosystem-Anbieter für das kaufmännische Rechnungswesen die folgenden drei grundsätzlichen Wege aufnehmen: Zum einen können die bisherigen Systeme iterativ weiterentwickelt werden, um zum Stand der betriebswirtschaftlichen Forschung aufzuschließen, bzw. sich daran deutlich anzunähern. Aufgrund der oben genannten Untersuchungserkenntnisse ist jedoch ein komplettes Neuaufsetzen des Systems erforderlich. Dies geht mit einem langen Zeitverzug und Ressourcenintensivität einher. Zum anderen wäre ein Partnering-Ansatz möglich, so dass z.B. über ein Portal oder anhand des Empfehlungsmarketings die Kunden des eigentlichen Softwareanbieters an Drittanbieter weitervermittelt werden. Interessant ist, dass spezialisierte und für das Kostenmanagement vielversprechende Expertentools als Nische im Markt bestehen. Mit letzterem ist die dritte Ausprägungsform verbunden. Die großen ERP-Anbieter können sich mit fremden Federn schmücken, indem sie entweder die bestehenden Systemanbieter für Expertentools als Ganzes aufkaufen oder im Sinne eines Zwischenhändlerfunktion die Expertenlizenzen kaufen und jene Funktionalitäten Ihren Bestandskunden zur Verfügung stellen.
Als Handlungsempfehlung ist zu resümieren, dass die untersuchten ERP-Anbieter aufgrund ihres Prozess- und Auswertungsschwerpunktes im externen Rechnungswesen einen Nachholbedarf an Instrumenten des internen Rechnungswesens haben. Für Entscheider dieser Softwareunternehmen stellt diese Diagnose eine enorme Chance dar. Für sie ermöglicht dies ein weiteres Lizenz-, sowie Beratungs- und Schulungsgeschäft. Da Lösungen für Mittelständler als auch Konzerne akut gebraucht werden, erscheint die Ausprägungsform der Portallösung sowie des Zukaufes am Markt bestehender Expertensysteme für unumgänglich. So ist in Deutschland krisenbedingt die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt. Spekuliert wird in der Presse, dass mit Auslaufen der Regelung mit einem starken Anstieg von Insolvenzen zu rechnen ist. Zu empfehlen ist daher, dass Entscheider insb. von Standardsoftwarehersteller ihre Verantwortung als digitale Prozessdefinierer, wie Prozessinnovierer für das kaufmännische Rechnungswesen gerecht werden, um die Zeit für den Standort Deutschland zu nutzen.
Notwendig ist zudem eine maßvolle Risikobereitschaft sowie Gestaltungswille, anstatt den Status-Quo zu bewahren.
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