Medikationsplan: Innovationsprojekt auf Entwicklungsniveau
09.12.2016
Politik, Recht & Gesellschaft
Ohne Frage können wir in Deutschland auf eines der weltweit besten und leistungsstärksten Gesundheitssysteme stolz sein. Ist es denkbar, dass in einem solchen System dialogwillige Akteure auseinandergetrieben werden? Und dass die implementierten Maßnahmen technisch so rückständisch sind, dass sie absehbar bald von digitalen Alternativen abgelöst werden? Ja - das sagen Experten, die das System kennen: Am 6. Dezember diskutierten in Hamburg beim 20. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik Vertreter aus Politik, Ärzte- und Apothekerschaft, Krankenkasse und Versorgungsforschung die Frage "E-Health-Gesetz: Was können wir vom neuen Medikationsplan erwarten?"
Arzneimitteltherapiesicherheit durch Interprofessionalität: Das ist das Anliegen des bundesweiten Medikationsplans, der am 1. Oktober 2016 an den Start gegangen ist. Das Zusammenwirken von Ärzten und Apothekern soll Patienten, die mehr als drei Arzneimittel einnehmen, vor unerwünschten Wirkungen schützen und Therapietreue sowie Therapieerfolg erhöhen. Erste Studien nach Inkrafttreten zeigen, dass Patienten zu wenig Kenntnis von ihrem Anspruch auf einen Medikationsplan haben, Ärzte das Potenzial bezweifeln, und ein interdisziplinärer Austausch kaum stattfindet, da die Apotheker weitgehend ausgeschlossen sind. Da läuft einiges nicht rund bei der Umsetzung einer gut gemeinten Maßnahme für die GK-Versicherten. Der Medikationsplan bleibt hinter den Erwartungen zurück und bildet bestenfalls eine erste Grundlage für ein gelingendes Medikationsmanagement.
Gut gedacht, aber ohne interprofessionelles Medikationsmanagement unvollständig gemacht
Versorgungsforscher Prof. Gerd Glaeske forderte eine Gleichberechtigung der Professionen: "Damit der Medikationsplan ein wesentlicher Baustein der Arzneimitteltherapiesicherheit werden kann, müssen neben Patient und Arzt auch Apotheker und Pflegende mit einbezogen werden", so Glaeske. "Wir verschenken Kompetenz!" Schon heute nimmt ein Drittel der über 65-Jährigen neun und mehr Wirkstoffe in Dauertherapie ein - mit oft gefährlichen Interaktionen: "Der Medikationsplan sollte gerade multimorbiden Patienten die Chance einer interprofessionellen Optimierung ihres Medikamentenmanagements bieten." Ohne geregelte und gleichberechtigte Interprofessionalität könne der Medikationsplan und ab 2018 die eHealth-Card den Patienten nicht zugutekommen. Glaeske appellierte an die Politik: "Lassen Sie uns den Medikationsplan evaluieren, um Patienten den eigentlichen Nutzen zu geben!"
ARMIN bildet keine Realität ab
Dr. Ulf Maywald (AOK PLUS) stellte das Modellprojekt ARMIN vor. Bei ARMIN speisen sowohl die beteiligten Ärzte und Apotheker, als auch die Krankenkasse und Patienten den Medikationsplan, so dass die kompletten Daten über verordnete und frei gekaufte Medikamente abgebildet werden. Die Erfassung geschieht elektronisch und mündet in einer umfassenden Medikationsanalyse. Der Erfolg dieses studienmäßig strukturierten Weges ist ebenso nachvollziehbar wie die fehlende Vergleichbarkeit mit einer bundesweiten Praxis-Realität. Maywald bemängelte, dass das System ohne eHealth-Card für den Arzt kompliziert sei, nicht adäquat honoriert werde, es keine bundeseinheitlichen Vorgaben für die Medikationsliste gebe und das Ausstellen des Medikationsplans nicht dokumentiert werde. "Wenn wir die Prozesse nicht hinbekommen und keine Transparenz schaffen, werden wir auch die Arzneimitteltherapiesicherheit nicht verbessern."
Smartphone-Technologie statt Zettelwirtschaft
Ähnlich die Beurteilung von Dr. Monika Schliffke (Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein). Sie fügte als Kritikpunkte hinzu, dass es an einheitlichen Strukturen und softwaregestützten Interaktionsprüfungen mangele. Zudem würden Patienten ungern ihre Selbstmedikation angeben und den Medikationsplan überhaupt selten dabei haben. Patienten in Pflegeeinrichtungen fielen grundsätzlich durch das Raster. "Das ist ein so kompliziertes System, dass es schwierig ist, damit umzugehen. Betriebswirtschaftlich ist das Ganze für die Ärzte ein Flopp", so Schliffke. "Wir meinen: Zukunft geht anders. Sie prognostiziert, dass die App-Technologie die Einführung eines digitalen Medikationsplans im Jahr 2018 bereits obsolet machen wird.
Pharmazeutische Expertise wird ausgeklammert
Weiterentwicklung des Berufsverständnisses der Apotheker zur patientenorientierten Pharmazie und Verbesserung der interprofessionellen Kommunikation waren die Kernthemen von Dr. Thomas Müller-Bohn (Apotheker, Autor, Journalist). Er äußerte Unverständnis, dass Apotheken als Schnittstelle der Versorgung nicht stärker in die Umsetzung des Medikationsplans integriert worden seien: "Wer könnte Medikation besser koordinieren? Apotheker sind die eigentlichen Spezialisten für die Arzneimitteltherapiesicherheit." Der Ausschluss der pharmazeutischen Expertise hätte die Apothekerschaft enttäuscht. "Wir sehen uns doch nicht als Konkurrenz zum Arzt, sondern als kompetente Mitwirkende an einem komplizierten und fehleranfälligen Prozess zum Wohl der gemeinsamen Patienten." So bleibt großes Potenzial ungenutzt.
Einsicht zur politischen Nachjustierung
Den Vorwürfen der Referenten, die sich vereint gegen ihre Entzweiung aussprachen, trat der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Edgar Franke erstaunlich offen entgegen: "Im Ausland staunt man, wie wir da rumgemurkst haben und nun mit einem Barcode-Medikationsplan anfangen. Man muss aber auch sagen, dass die Ärzteschaft alles getan hat, damit es mit der elektronischen Gesundheitskarte nicht klappt. Immerhin sind wir mit dem Medikationsplan auf einem guten Weg." Innerhalb einer Legislaturperiode habe man 16 Gesundheitsgesetze verabschiedet - für Franke eine Bestätigung dafür, dass die Regierung willensstark an der Verbesserung der Patientenversorgung arbeitet.
Im Fazit aller Referenten des 20. Eppendorfer Dialogs steht: Der Medikationsplan kann die Erwartungen nicht erfüllen, beträchtliche Chancen zur Verbesserung werden zurzeit noch nicht genutzt - die Bereitschaft der Akteure ist jedoch vorhanden.
Seit 2006 gilt der Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik als Seismograph für Stimmungslagen in allen Bereichen des Gesundheitssystems. Bereits zum 20. Mal fand die öffentliche Debatte am 6. Dezember 2016 in Hamburg statt. Zum dritten Mal war Prof. Dr. med. Achim Jockwig (Carl Remigius Medical School, Hochschule Fresenius) Initiator und Moderator des Dialogs und führte mit Gespür für die vielen Fragezeichen rund um den Medikationsplan durch die Debatte. Es gelang ihm erneut, einen offenen Diskurs zwischen Referenten und Auditorium zu initiieren, der in eine spannende und erkenntnisreiche Debatte mündeten. Der Eppendorfer Dialog wird mit Unterstützung von G. Pohl-Boskamp durchgeführt.
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