Verhinderung von Arzneimittelinnovationen durch RCT-Maßstab
22.04.2016
Politik, Recht & Gesellschaft
Nicht immer ist es reines Gold, was glänzt. Auf die sprichwörtliche Formel kann die überwiegende Einschätzung der Beteiligten am Gesundheitssystem gebracht werden, wenn es um randomisierte kontrollierte Studien (RCT) in der medizinischen Evidenzgenerierung geht. RCT ist Goldstandard in der Arzneimittelzulassung. Dahinter steht die Annahme, dass sie bester Garant für eine optimale Gesundheitsversorgung gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind. Ob das die Realität widerspiegelt, diskutierten Experten mit einem engagierten Auditorium beim 19. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik am 20. April 2016 in Hamburg. Es ging um die Nutzendefinition im Rahmen der Evidenzbeurteilung, um Innovationshemmung durch RCT-Level, um die Forderung nach Methodenvielfalt. Chairman Prof. Achim Jockwig (Hochschule Fresenius) schaffte es, die öffentliche Debatte durch routinierte Diskussionsleitung zu einem für alle spannenden und konstruktiven Dialog zu machen.
Bereits zum 19. Mal begleitete der von G. Pohl-Boskamp unterstützte öffentliche "Eppendorfer Dialog zu Gesundheitspolitik" ein für alle Beteiligten am Gesundheitswesen brisantes Thema. Die Frage lautete "Evidenzgenerierung in der Medizin - nur über klinische Studien?" Als Referenten eingefunden hatten sich Vertreter aus der Lehre, der Politik, dem Gemeinsamen Bundesausschuss, der pharmazeutischen Industrie und der großen Patientenorganisation ACHSE.
Im individuellen Fall liefert die statistische Aussage keine exakte Diagnose
Frau Prof. Dr. habil. Lilia Waehlert (Studiendekanin Master Führung und Management im Gesundheits- und Sozialwesen, Programme Director für den M.Sc. International Pharmacoeconomics & Health Economics, Hochschule Fresenius) führte das Auditorium in die Kausalzusammenhänge von evidenzbasierter Medizin (EbM) und RCT ein. EbM gründet auf dem sicheren Wissen um den bestmöglichen Therapienutzen. RCT gelten in vielen Ländern als Garant dafür, da sie kausale Beziehungen zwischen Therapie und Effekt darstellen. "Allerdings" so Prof. Waehlert, "entspricht die Studienpopulation nicht der realen Versorgungspopulation derer, die das Arzneimittel erhalten werden. Ein Hauptproblem, so Prof. Waehlert, ist eine Nutzendefinition, die nicht zwischen Patientennutzen und ökonomischem Nutzen unterscheidet.
"Wir wissen, dass RCT nicht alle Rahmenbedingungen erfüllen", räumte Thomas Müller (Arzt und Apotheker, Leiter der Abteilung Arzneimittel des G-BA) ein. Ganz problematisch findet Müller den Rückschluss: Wenn keine RCT vorliegt, gibt es keinen Nutzen, also wird auch das Arzneimittel nicht gebraucht. " Er räumt ein, dass es sich bei einer von Systematik und Wahrscheinlichkeit getriebene Evidenzgenerierung nicht unbedingt um die Wahrheit handelt, sieht aber wenig andere Möglichkeiten, die gesetzlichen Vorgaben für Leistungen aus der GKV zu erfüllen: "Der Bundesausschuss entscheidet exakt normativ. Das Mittel muss profitieren."
Wie aber definieren sich bestmögliche Evidenz und damit therapeutischer Nutzen? Fragen, die Dr. Jens Peters (Leiter des Geschäftsfeldes Klinische Forschung beim BPI) als den Knackpunkt im System beschreibt. Unzählige Methoden zur Bewertung von Qualität und Empfehlungsstärke führen nicht zur Klärung, und zumeist findet der individuelle Patientennutzen keine Berücksichtigung. "Selbst beste Form von Evidenz liefert nicht für jede Art von medizinischen Fragen die besten Antworten", so Dr.Peters. EbM sollte die Kompetenzen, Präferenzen und Wertvorstellungen von Handelnden UND Betroffenen umfassen.
Patientennutzen braucht Methodenvielfalt
"Es gibt eine Welt außerhalb von RCT, und wir müssen aufpassen, dass wir Innovationen nicht dadurch verhindern, dass wir sagen: Moment, da muss erstmal ein bestimmter Evidenzlevel angelegt werden", mahnt Dr. phil. nat. Andreas L. G. Reimann (Geschäftsführender Gesellschafter der admedicum GmbH - Die Patientenagentur, Ehrenamtlicher Vorsitzender der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ACHSE). Er fordert Institutionen und Beschlussgremien auf, Evidenz vom Patienten her zu denken. Viel zu oft werde Outcome mit Impact gleichgesetzt. Reimann spricht sich für
Methodenvielfalt aus, damit der individuelle Patientennutzen in die Evidenzbetrachtung einfließen kann.
IQWIG darf nicht der "Nerd" in einem innovationsfeindlichen System sein
"In einem solidarisch finanzierten System müssen wir immer rechtfertigen, wann und warum welche Leistung erbracht wird", rechtfertigte sich Michael Hennrich (MdB, Obmann der CDU/CSU im Ausschuss für Gesundheit). Dafür hält er RCT für unumgänglich. Allerdings könne man es sich nicht leisten, dass das IQWIG als Nerd in einem innovationsfeindlichen System neue Arzneimittel vorzugsweise herausdränge. Daher muss die Politik im Dialog mit den Beteiligten das Thema Evidenzgenerierung in allen Facetten neu betrachten.
Fazit: EbM ist unverzichtbare Grundlage einer sicheren Patientenversorgung. Allerdings sollte es eine größere Methodenvielfalt und individuelle Beurteilungskriterien zur Gewinnung von nicht nur systematischer, sondern individueller Evidenz geben. EbM darf sich nicht über Studiendesigns definieren, die Innovationen verhindern und nutzenstiftenden Therapien den Versorgungszugang versperren. Im Sinne des Patientennutzens müssen Daten aus Real life-Untersuchungen für eine Nutzenbewertung ebenso herangezogen werden wie die Potentiale aus Big Data-Analysen.
Informationen zu den Eppendorfer Dialogen unter: http://www.eppendorferdialog.de (http://www.eppendorferdialog.de)
Gemeinsamer Bundesausschuss BPI Evidenzgenerierung RCT Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik Patientenversorgung randomized controlled trial
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